Montag, 15. Juni 2015

was uns bleibt

Vor nicht langer Zeit hat mich ein Freund gefragt, welche Sache ich auf dieser Welt am liebsten ändern würde.
Eine kleine Geschichte vom Lernen.

Was wir lernen
An meinem ersten Tag auf dem Weg zum Erwachsenwerden saß ich an einem hölzernen Schultisch und musste einen Schuleignungstest machen. Auf der anderen Seite des Tisches saß eine Lehrerin, die von mir verlangte eine Kirche auf ein Blatt Papier zu malen, um so zu überprüfen, ob ich reif genug für dieses Schulsystem war.
In diesem Moment einer unbedachten Fünfjährigen, beschloss ich, dass Kirchen langweilig sind. Aber am Tag davor hatte ich im Fernsehen zum ersten Mal einen Astronauten gesehen. Also malte ich auf das Papier ein Raumschiff statt der Kirche– und fiel durch den Test durch.
Damit hatte ich am ersten Tag gleich meine drei wichtigsten Lektionen für den Rest meiner Schul- und Studienzeit gelernt: Nicht denken. Präzise Auswendiglernen. Kommentarlos wiedergeben.
Fazit: wenn man dir sagt, du sollst eine Kirche malen, dann male eine Kirche. Es ist nicht wichtig, dass du mit fünf Jahren schon weißt, wie ein Raumschiff aussieht.

Wo wir lernen
Heute finde ich auf dem Aufgabenzettel vor mir Sätze, Ideen und Antworten, die in „richtig“ und in „falsch“ unterteilt werden. Wenn ich dem zustimme, was mein Professor als „richtig“ befunden hat, bekomme ich einen Punkt – und damit einen Abschluss.
In meiner Studienzeit habe ich häufig das Gefühl ein Wiederkäuer schon gedachter Gedanken zu sein, die ich an einem bestimmten Tag innerhalb eines bestimmten Zeitfensters reproduzieren soll.
Klausuren erfassen jedoch nur einen kleinen Ausschnitt, von dem, was ich in meiner Studienphase gelernt und begriffen habe. Die Art und Weise, wie ich mich mit dem Stoff auseinander setze, aber vor allem meine eigenen, weiterführenden Gedanken wird meistens nicht einmal zur Kenntnis genommen.
Manchmal wünsche ich mir dann, dass ich auf den Aufgabenzettel eine dritte Ankreuzmöglichkeit eintragen darf, die sagt: „warte mal: könnte das nicht auch alles ganz anders sein?“

Ich möchte nicht sagen, dass wir Klausuren und Noten komplett abschaffen sollen. Für einige bedeuten sie Struktur und Lernmotivation.
Ich sage auch nicht, dass wir Lehrpläne ignorieren müssen, die uns auch verpflichten bestimmte Grundlagen der jeweiligen Wissenschaft zu erlernen. Auch im Berufsleben wird es immer wieder Phasen geben, in denen wir uns Dinge aneignen müssen, die uns nicht gefallen und da kann so ein Training vorab hilfreich sein.

Wie wir lernen
Was mir am Ende des Semesters jedoch als einziges Feedback seitens der Uni bleibt, sind Noten. Ich weiß, das alles andere – in Form von persönlicher Rückmeldung oder individuellen Anregungen - schwer zu bewerkstelligen ist, wenn noch 300 andere Studenten im Hörsaal sitzen. Ein voller Kurs minimiert aber nicht mein Bedürfnis als Mensch wahrgenommen und anerkannt zu werden. Vor allem entspricht diese Art von Lernsystem bei weitem nicht dem, was jeder von uns jungen Menschen wert ist.

Wir müssen junge Menschen mit ihren Ideen viel mehr in das Bildungssystem eingliedern. Warum kann erst jemand, der einen Doktor hat gute Forschung leisten und nicht auch schon eine Studentengruppe?
Dann könnte ja jeder kommen, sagen viele. Aber was wäre schlimm daran? Die, die wirklich bleiben wollen, würden weniger Hürden vorfinden. Die, die nur reden, würden nicht durchhalten.

Wir sind viele, die nicht für dieses engmaschige System konzipiert wurden. Wir verlieren so viele staunende, träumende, grenzüberschreitende Menschen dabei, die eine wichtige Ressource für unsere Gesellschaft darstellen. Deshalb müssen wir die Menschen da abholen wo sie stehen, nicht dort, wo wir sie gerne sehen würden.
Wir sollten den Kindern nicht beibringen, wie sie Fragen beantworten, sondern – wie sie Fragen stellen.

Zunächst brauchen wir Professoren, die sich für ihre Studierenden interessieren. Ein bisschen wie der Club der toten Dichter.
Wer hat mich denn nach einer Vorlesung mal gefragt, was ich mir dazu gedacht habe? Selten jemand. Und dabei habe ich mir etwas dazu gedacht. Eine Menge sogar!
Ich bin mir sicher, dass wenn wir alle unsichtbaren und stillen Ideen vieler Studierenden einmal laut sammeln und aussprechen würden, daraus eine neue Welt erschaffen könnten.
Um das zu erreichen, brauchen wir Menschen, die dabei unterstützen: Mentoren!

Wer mit uns lernt
Du erinnerst dich bestimmt an den einen guten Lehrer, den du mal hattest. Der dir nicht nur Aufgaben, sondern auch mal ein gutes Wort mitgegeben hat, vielleicht einen der drei Sätze, die du in schwierigen Momenten als Selbstmotivation aus deiner Erinnerung kramst.

Mentoren sind Menschen, die uns eine ganz besondere Form der Akzeptanz schenken, anders als Freunde oder Eltern, die in ihrer Beziehung zu uns ganz spezielle Funktionen haben.
In der Verbindung zu unseren Eltern finden wir eine unbegrenzte Liebe wieder, aber auch eine Art von Hierarchie, die es im Laufe unserer Entwicklung zu durchbrechen gilt. Unsere Freunde stellen unser Gegenüber dar, bieten Identifikationsflächen und Gruppenzugehörigkeit. Ein Mentor ist jedoch jemand, der völlig frei von alldem ist und uns gerade deshalb so bereichern kann. Wir lernen, wie schön es ist, wenn jemand für uns Dinge tut – die er gar nicht tun müsste. Jemand, der uns begleitet und von Außen auf unser Innerstes schaut, uns Fragen stellt, über die wir vielleicht mehrere Tage nachdenken müssen oder uns manchmal einfach nur sagt: „Ich glaube an Dich.“ 

Im Idealfall erleben wir einen Menschen, dessen unbändige Neugierde und Begeisterung sich auf uns niederschlägt und uns inspiriert genau wie dieser Mensch zu werden – auf unsere eigene Art und Weise.

Was ist „Lernen“?
Lernen bedeutet Zeit und irgendwo auch Geduld. Es beschreibt einen Prozess, der viele Formen des Scheiterns beinhaltet, aber jedem Menschen inbegriffen ist. Es gibt keinen Menschen, der nicht lernen kann und möchte.

Deshalb glaube ich, dass wir Kindern nicht sagen brauchen, was und wie sie lernen sollten.
Wir sollten ihnen vermitteln, dass wir ihnen beim Suchen, Scheitern und Entdecken vertrauen und ihnen zur Seite stehen. Im Zeitalter von Kleinkind-Englischkursen und Begabtenförderung für Neugeborene erscheint das für viele Menschen undenkbar.
Aber, ein Mensch, der gelernt hat, Vertrauen in sich selbst und seine intuitiven Fähigkeiten zu haben, kann auch noch mit 60 Jahren Chinesisch lernen, anders als jemand, der nie gelernt hat seinen Sinnen, anstatt seinem Wissen zu vertrauen.
Kinder, die früh lernen, dass sie nur etwas wert sind, wenn sie bestimmte Dinge wissen, werden in dieser Neugierde und Lernen gebremst.
Jeder von uns sollte stolz darauf sein, ungestellte Fragen zu besitzen.

Jeder von uns kann selbst ein Lehrer sein, wir brauchen nicht viel dafür – eigentlich nur Zeit, um Zuzuschauen.
Wenn mich Kinder nach richtigen und falschen Antworten fragen, dann möchte ich ihnen sagen, dass sie einfach nicht erwachsen werden sollten.
Dass sie den Mut entwickeln sollen, die dritte Antwortmöglichkeit auf den Aufgabenzettel zu malen.
Und, dass es auch okay ist ein Raumschiff zu malen, wenn man nach einer Kirche gefragt wird. Man sollte sich dann nur Mühe geben, ein Raumschiff zu malen, das besonders weit fliegt.











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