Sonntag, 9. November 2014

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Imagine our planet would have no borders. And then, step two, rethink: it actually has none!

“Ich zappte durch die Programme unseres Fernsehens und entdeckte diesen merkwürdigen Film. Da stürmten Menschen über die Berliner Mauer in den Westen. Irgendwie dachte ich mir, dass so ein Film schon recht ungewöhnlich für die damalige Zeit sei – und noch seltsamer war: er lief auf allen Kanälen. Plötzlich erkannte ich einen Bekannten von mir, der vor der Mauer stand und brüllte: „Wir gehen jetzt in den Westen!“ Da wurde mir klar, das war kein Film. Das geschah gerade wirklich!“

Das hat meine Mutter mir geantwortet, als ich sie nach ihrer Erinnerung an den Mauerfall gefragt habe. An diesem Tag, vor 25 Jahren, hat meine damals fast dreißigjährige Mutter zum ersten Mal kennenlernen dürfen, was Freiheit bedeutet. Einfach dahin gehen, wo man gerade Lust hat, keine Restriktionen, kein System, das sich durch die Hauswand hindurch in das eigene Wohnzimmer einnistet. 

Für mich ist das etwas Unvorstellbares, mich an Grenzen zu halten. Ich bin es gewöhnt in einer Welt zu leben, in der Menschen verschiedener Nationalitäten in einem Haus wohnen, jeder sein Geschlecht und seine Sexualität frei wählt, niemand etwas glauben muss und man keine Portraits von Machthabern in sein Wohnzimmer hängt. Dass ich eine laute Meinung teilen darf und morgen nach Thailand, China oder in die USA reisen kann, wenn ich es möchte. 

Für meine Mutter, die in Rumänien geboren und in die DDR ausgewandert war, bedeutete Freiheit etwas ganz anders: eine Illusion! Etwas, was der Mensch sich vorstellt, aber was real niemals nachempfunden wurde.
Heute feiern wir den Fall der Mauer als etwas Vergangenes mit einem überzeugten Gefühl, das unsere Sicherheit darüber ausdrückt, dass so etwas hierzulande nie wieder passieren würde. Doch, es reicht nur mit dem Finger auf der Landkarte ein paar Zentimeter weiterzufahren, um die Aktualität des Themas „Grenzen“ kennenzulernen, beispielsweise in Südkorea. 

Aber wir nutzen Grenzen nicht nur, indem wir sie errichten, sondern auch, indem wir sie dort zerstören, wo sie uns einen Schutzraum gewähren würden.  Wir bauen Zäune und ziehen die Rollos runter, damit uns niemand ins Haus schaut, um uns in unserer Intimität von anderen abzugrenzen. Aber stellen wir uns vor, dass uns diese sehr private Entscheidungsfreiheit von einem uns persönlich unbekannten System abgenommen wird.

Ein gutes Beispiel für dieses Durchdringen privater Räume in China ist die Nutzung des am sowjetischen Vorbild angelehnten Drahtfunks zur Zeit der Kulturrevolution (1966-1976). „Die Menschen waren den ständigen offiziellen Verlautbarungen und mäßig unterhaltsamen Programmen des politik- und revolutionsorientierten Drahtfunks ausgeliefert.“[1] Für viele Menschen, die in ländlichen Regionen lebten, war der Drahtfunk oftmals die einzige Informations- und Nachrichtenquelle überhaupt und somit das einzige dialogfördernde Medium. Drahtfunkstationen wurden an Bäumen, aber auch in Wohnbereichen von Häusern angebracht. „Ende der 1960er Jahre waren rund 6 Millionen Drahtfunkstationen angeschlossen.“[2] Prägend am Drahtfunksystem war, dass man es nicht abschalten konnte. Stell dir also mal vor, in deiner Wohnung läuft den ganzen Tag Schlagermusik, obwohl du Schlager überhaupt nicht magst – und du kannst es nicht abstellen. 

Von China zurück nach Deutschland gibt es jedoch auch hier Grenzen, die uns beschäftigten, nur dass sie viel subtiler sind und deshalb manchmal schwer zu erfassen.

Ich wohne schon lange hier in meinem Viertel und meine es zu kennen. Aber als ich einmal mit dem Fahrrad falsch abgebogen bin, stand ich plötzlich vor einem Asylantenheim – einem heruntergekommenen Gebäude, mit Teppichen in den Fenstern, dahinter laute Balkanmusik, der Geruch von gegrilltem Fleisch, Kindergeschrei und rund einhundert Schicksalen, die auf der Suche nach Freiheit hier gelandet sind. In einem Paralleluniversum, das sich mitten in meinem Stadtviertel befindet, aber nicht morgens beim Bäcker Brötchen holt, im Café sitzt und im Sportverein angemeldet ist. Diese Menschen, die hier leben, fahren nicht im gleichen Bus wie wir, kaufen keine Winterstiefel und stehen auch nicht an der Supermarktkasse hinter uns.  Auch wenn wir uns die gleichen Quadratkilometer teilen, trennen uns leider doch zahlreiche unsichtbare Grenzen voneinander. Wenn wir heute also über Grenzen nachdenken und uns freuen, sollten wir trotzdem auch einen Wortbaustein hinzunehmen und diesen als Aufgabe für die Zukunft verstehen: „Aus-Grenzen“.

Ein schöner Zufall am heutigen Tag ist, dass wir nicht nur 25 Jahre nach dem Mauerfall gedenken, sondern uns auch über die Rückkehr der Expedition 41 von der ISS freuen dürfen. Zoomen wir gedanklich, von unserer Welt, die wir mit Mauern, Zäunen und mentalen Schubladen zugestellt haben, in die Ferne und warten, was wir dort entdecken werden. Der ehemalige US-Astronaut Donald Williams formuliert sein Fazit zu dieser Frage folgendermaßen:

„Für diejenigen, die die Erde aus dem Weltraum gesehen haben, und für die Hunderte und vielleicht Tausende, die es noch tun werden, verändert das Erlebnis sehr wahrscheinlich ihre Weltsicht. Die Dinge, die wir auf der Erde miteinander teilen, werden viel wertvoller als jene, die uns trennen.“



Mittwoch, 5. November 2014

Galileo, my friend!


Ein persönlicher Einblick in das Entdecken, das Verlieren und das Wiederfinden.

Als ich den Planeten Jupiter das erste Mal sah, war ich fünf Jahre alt, saß mit meiner Cornflakesschale vor dem Fernseher und fragte mich, was der runde Gegenstand in der Kinderkanalsendung zu suchen hatte. „Das - das ist ein Planet“, erklärte meine Mutter. „Ein Planet!“, wiederholte ich und lächelte - der Startschuss für eine Leidenschaft, die mich lange begleiten würde.

Es begann eine Kindheit geprägt von dem Traum, Astronautin zu werden. Meine Mutter schenkte mir Kinder-Astronomiebücher, die ich bald auswendig kannte, und brachte mich - da wir damals noch in Berlin lebten - in das Naturkundemuseum, wo mich vor allem die meterhohen Dinosaurierskelette faszinierten. Astronautin würde ich zwar nie werden, zu schlecht sind meine Augen und außerdem wird mir schon auf der Rückbank im Auto übel, aber der Enthusiasmus für alles, was mit unserem Ursprung, der menschlichen Funktionsweise, der Natur oder dem Kosmos zusammenhing blieb,

Diese Liebe zu Naturwissenschaften spiegelte sich auch im Zeugnis wieder. In der sechsten Klasse war meine beste Note eine Eins in Physik. 

Anfang der siebten Klasse betrat aber ein anderer Lehrer den Physikkurs. Von da an bauten wir nicht mehr Stromkreise mit großen Batterien auf Pappe, sondern begannen, Versuchswerte von der Tafel abzuzeichnen, deren Entstehung die meisten von uns nicht praktisch nachvollzogen. Unser Chemielehrer, ein verrauchter Mann kurz vor der Pensionierung mit einem längst vergilbten Weltbild erklärte, dass Chemie Mädchen nur dann betrifft, wenn es um die Zusammensetzung der Haartönung ginge.
 
Einige Wochen, nachdem das Schuljahr begonnen hatte, waren viele Klassenkameraden ein paar Stuhlreihen zu den hinteren Bänken gewandert, legten die Köpfe auf die Tischplatten, um ihrer Resignation einen Ausdruck zu verleihen. Physik war out. Chemie genauso. Zu abstrakt, zu langweilig. Mit schweigendem Blick sah ich, wie die Welt von Isaac Newton mit den Baumblättern im Oktober allmählich verschwand und eine mir unbekannte Kälte hinterließ.

Meinen Gleichgesinnten und mir blieb nur ein Ausweg: Wir stürmten die Front der Geisteswissenschaftler. Doch hier wurden wir prompt zur Generation „kann-doch-eh-nur-reden“ oder Generation „geht-an-die-Uni-um-auf-Hartz-IV-zu-studieren“ ernannt. So lauteten die Stempel, die uns aufgedrückt wurden, die weder uns, noch den Geisteswissenschaftlern noch sonst irgendeinem Menschen gerecht werden.

Wir sprachen über Zeitgeist und Weltschmerz, während ein paar Außenseiter mit Reagenzgläsern experimentierten. Naturwissenschaften waren das, wofür mein Kopf nicht taugte - davon war ich überzeugt. Dabei las ich in meiner Schulzeit nie Romane, hatte aber Regale voller Sachbücher, die sich mit Astronomie, Psychologie, Raumtheorien oder Evolution beschäftigten. 

Aber ich lief mit der Gruppe mit, schrieb viel, versuchte mich an philosophischen Gedanken und spürte dabei, dass mir irgendetwas fehlte - ich wusste nur nicht so genau was. Vor allem, da mir waghalsige Schullektüren-Interpretationen niemals lagen, und ich es nur verstand vorab im Internet nach der Lösung zu suchen um diese in Klausuren originalgetreu wiederzugeben. Wenn ich mir heute alte Klausuren aus dem Deutschkurs anschaue, beginnen meine Sätze fast alle gleich: „Dieses Buch kritisiert die Welt, weil…“ Ich wollte damals auch die Welt verändern, und mir war klar, dass ich das nicht durch Geschichten erzählen erreichen würde, sondern indem ich etwas erfinde! 

Mittlerweile bin ich dankbar dafür, dass meine stille Sehnsucht ein Ende gefunden hat und ich mich dank meines Studiums auf dem Spielplatz der Wissenschaft vollständig austoben darf. Nachdem ich mich an der Uni eingeschrieben hatte, landete ich zunächst artig dort, wo die Gesellschaft mich einkategorisiert hatte: bei denen, die nur reden. Besonders wohlgefühlt habe ich mich zwischen hippen Sprüchen, verbalen Schnellballschlachten und dem anerlernten Coolnessfaktor ehrlich gesagt nie. Aber ich hatte das Glück auch andere Erfahrungen machen zu dürfen:

Ich erinnere mich an einen stillen Dezemberabend, es war der zweite Weihnachtstag und ein Freund lud mich ins Programmkino ein, um einen Film zu schauen. Da bin ich ihnen begegnet: Menschen, die so sind wie ich! Auf der Leinwand. Der Film, eine südamerikanische Produktion über die Teleskope in der Atacama-Wüste portraitierte Menschen, die Sätze sagten, die ich erstens nachvollziehen und zweitens wertschätzen konnte. Ich habe selten bei einem Film geweint, aber an diesem lahmgelegten Weihnachtsfeiertag saß ich in Köln im Kino und fühlte mich so, als würde ich von einer kalten Eisschicht befreit werden. 

Wenn mich heute jemand fragt, was ich mache, dann sage ich: „Wissenschaft!“ Und es fühlt sich irgendwie richtig an!

Jeder Mensch ist ein Wissenschaftler

In seinem Buch „Successful Research Projects“ schreibt B. C. Beins als einleitenden Satz auf die Frage danach, warum wir Wissenschaft und Forschung betreiben: „The best answer is, that we do research, because it is fun!“ 

Was mich am Weltraum, oder an der Wissenschaft allgemein, fasziniert, ist ihre Unendlichkeit und die Tatsache, dass wir mit unserem Wissen an Grenzen stoßen, weil dieses Themenfeld für uns noch keine Grenzen im Erfahren und Erforschen kennt. 

Wir sind aus dem Weltraum entstanden, sind auf Bäume geklettert, haben Wildschweine gejagt und Kriege geführt um uns mit Hilfe der Wissenschaft und dem darin eingebetteten Idealismus unserem Ursprung wieder zuzuwenden. 

Mich faszinieren auch die Menschen, die ich in der Wissenschaft getroffen habe, einerseits kreativ und voller Visionen, auf der anderen Seite klare und strukturierte Charaktere, die sich in Details verlieren um das Ganze zu erfassen. 

Zu einem dieser Menschen zählt der mittlerweile verstorbene Jesco von Puttkamer, der einmal sagte: „Jugend, meidet die Komfortzone!“ Das war im Astronomiejahr 2009 bei einem Vortrag, wo ich alleine als junger Mensch zwischen gefühlt 300 Rentnern dasaß und mich in diesem Moment fürchterlich erhaben fühlte.

Oder ein anderes Beispiel, der deutsche Astronaut Alexander Gerst, der als Multitalent und Paradebeispiel eines Menschen viele Heldenvisionen erfüllen dürfte und dann doch von der Zerbrechlichkeit unseres Planeten berichtet, würdevoll und nachsichtig. 

Und das zeigt, dass wir im Anbetracht des Universums klein und unbedeutsam sind, aber unserer Existenz dadurch einen Wert verleihen, dass wir kreativ sind, fragen und entdecken. Lebewesen, die nicht nur sprichwörtlich nach den Sternen greifen, sondern real den Weg nach oben suchen.

Der Begriff „Kreativität“ steht für viele Menschen im Gegensatz zur Wissenschaft, aber wer sich den Wortursprung ansieht, kann Ähnlichkeiten entdecken. Kreativ sein bedeutet schaffen, und dieses steckt auch in der Wissenschaft. Natürlich gibt es auch Menschen, die bei Gang auf die Toilette bedeutsame Erfindungen geleistet haben, aber selbst dafür muss ein Mensch wach, ein bisschen kindlich und vor allem offen und schöpferisch sein, um an seiner Entdeckung nicht vorbei zu spazieren. 

Heute, knapp 20 Jahre später, finde ich mich in der Eingangshalle des Naturkundemuseums wieder, wo jener große Dinosaurier vor mir steht. Ich habe Angst davor, dass er klein und langweilig erscheinen könnte. So geht es schließlich vielen Erwachsenen, die die Fähigkeit zum Staunen längst verlernt und schließlich verloren haben. Als ich die Halle betrete, fällt mir zunächst ihr Klang auf: ein leises Echo von Stimmen, Schritten und zirkulierender Luft. 

Dann steht er vor mir. Das helle Skelett wirkt immer noch riesig - so wie damals, ich fühle mich klein, versuche die Knochen zu zählen um begeistert ab der Mitte aufzugeben, weil es zu viele sind. Erleichtert  realisiere ich, dass sich an meiner Begeisterung nichts geändert hat, nur meine Betrachtungsweise hat neue Aspekte gewonnen. Aus einer naiven Neugierde ist das Bewusstsein für die permanente Grenzenlosigkeit, die mich umgibt, entstanden.  

Als ich aus dem Museum in die junge Nacht trete, sehe ich, dass trotz der Stadtlichter Berlins am Himmel helle Sterne leuchten.