Mittwoch, 5. November 2014

Galileo, my friend!


Ein persönlicher Einblick in das Entdecken, das Verlieren und das Wiederfinden.

Als ich den Planeten Jupiter das erste Mal sah, war ich fünf Jahre alt, saß mit meiner Cornflakesschale vor dem Fernseher und fragte mich, was der runde Gegenstand in der Kinderkanalsendung zu suchen hatte. „Das - das ist ein Planet“, erklärte meine Mutter. „Ein Planet!“, wiederholte ich und lächelte - der Startschuss für eine Leidenschaft, die mich lange begleiten würde.

Es begann eine Kindheit geprägt von dem Traum, Astronautin zu werden. Meine Mutter schenkte mir Kinder-Astronomiebücher, die ich bald auswendig kannte, und brachte mich - da wir damals noch in Berlin lebten - in das Naturkundemuseum, wo mich vor allem die meterhohen Dinosaurierskelette faszinierten. Astronautin würde ich zwar nie werden, zu schlecht sind meine Augen und außerdem wird mir schon auf der Rückbank im Auto übel, aber der Enthusiasmus für alles, was mit unserem Ursprung, der menschlichen Funktionsweise, der Natur oder dem Kosmos zusammenhing blieb,

Diese Liebe zu Naturwissenschaften spiegelte sich auch im Zeugnis wieder. In der sechsten Klasse war meine beste Note eine Eins in Physik. 

Anfang der siebten Klasse betrat aber ein anderer Lehrer den Physikkurs. Von da an bauten wir nicht mehr Stromkreise mit großen Batterien auf Pappe, sondern begannen, Versuchswerte von der Tafel abzuzeichnen, deren Entstehung die meisten von uns nicht praktisch nachvollzogen. Unser Chemielehrer, ein verrauchter Mann kurz vor der Pensionierung mit einem längst vergilbten Weltbild erklärte, dass Chemie Mädchen nur dann betrifft, wenn es um die Zusammensetzung der Haartönung ginge.
 
Einige Wochen, nachdem das Schuljahr begonnen hatte, waren viele Klassenkameraden ein paar Stuhlreihen zu den hinteren Bänken gewandert, legten die Köpfe auf die Tischplatten, um ihrer Resignation einen Ausdruck zu verleihen. Physik war out. Chemie genauso. Zu abstrakt, zu langweilig. Mit schweigendem Blick sah ich, wie die Welt von Isaac Newton mit den Baumblättern im Oktober allmählich verschwand und eine mir unbekannte Kälte hinterließ.

Meinen Gleichgesinnten und mir blieb nur ein Ausweg: Wir stürmten die Front der Geisteswissenschaftler. Doch hier wurden wir prompt zur Generation „kann-doch-eh-nur-reden“ oder Generation „geht-an-die-Uni-um-auf-Hartz-IV-zu-studieren“ ernannt. So lauteten die Stempel, die uns aufgedrückt wurden, die weder uns, noch den Geisteswissenschaftlern noch sonst irgendeinem Menschen gerecht werden.

Wir sprachen über Zeitgeist und Weltschmerz, während ein paar Außenseiter mit Reagenzgläsern experimentierten. Naturwissenschaften waren das, wofür mein Kopf nicht taugte - davon war ich überzeugt. Dabei las ich in meiner Schulzeit nie Romane, hatte aber Regale voller Sachbücher, die sich mit Astronomie, Psychologie, Raumtheorien oder Evolution beschäftigten. 

Aber ich lief mit der Gruppe mit, schrieb viel, versuchte mich an philosophischen Gedanken und spürte dabei, dass mir irgendetwas fehlte - ich wusste nur nicht so genau was. Vor allem, da mir waghalsige Schullektüren-Interpretationen niemals lagen, und ich es nur verstand vorab im Internet nach der Lösung zu suchen um diese in Klausuren originalgetreu wiederzugeben. Wenn ich mir heute alte Klausuren aus dem Deutschkurs anschaue, beginnen meine Sätze fast alle gleich: „Dieses Buch kritisiert die Welt, weil…“ Ich wollte damals auch die Welt verändern, und mir war klar, dass ich das nicht durch Geschichten erzählen erreichen würde, sondern indem ich etwas erfinde! 

Mittlerweile bin ich dankbar dafür, dass meine stille Sehnsucht ein Ende gefunden hat und ich mich dank meines Studiums auf dem Spielplatz der Wissenschaft vollständig austoben darf. Nachdem ich mich an der Uni eingeschrieben hatte, landete ich zunächst artig dort, wo die Gesellschaft mich einkategorisiert hatte: bei denen, die nur reden. Besonders wohlgefühlt habe ich mich zwischen hippen Sprüchen, verbalen Schnellballschlachten und dem anerlernten Coolnessfaktor ehrlich gesagt nie. Aber ich hatte das Glück auch andere Erfahrungen machen zu dürfen:

Ich erinnere mich an einen stillen Dezemberabend, es war der zweite Weihnachtstag und ein Freund lud mich ins Programmkino ein, um einen Film zu schauen. Da bin ich ihnen begegnet: Menschen, die so sind wie ich! Auf der Leinwand. Der Film, eine südamerikanische Produktion über die Teleskope in der Atacama-Wüste portraitierte Menschen, die Sätze sagten, die ich erstens nachvollziehen und zweitens wertschätzen konnte. Ich habe selten bei einem Film geweint, aber an diesem lahmgelegten Weihnachtsfeiertag saß ich in Köln im Kino und fühlte mich so, als würde ich von einer kalten Eisschicht befreit werden. 

Wenn mich heute jemand fragt, was ich mache, dann sage ich: „Wissenschaft!“ Und es fühlt sich irgendwie richtig an!

Jeder Mensch ist ein Wissenschaftler

In seinem Buch „Successful Research Projects“ schreibt B. C. Beins als einleitenden Satz auf die Frage danach, warum wir Wissenschaft und Forschung betreiben: „The best answer is, that we do research, because it is fun!“ 

Was mich am Weltraum, oder an der Wissenschaft allgemein, fasziniert, ist ihre Unendlichkeit und die Tatsache, dass wir mit unserem Wissen an Grenzen stoßen, weil dieses Themenfeld für uns noch keine Grenzen im Erfahren und Erforschen kennt. 

Wir sind aus dem Weltraum entstanden, sind auf Bäume geklettert, haben Wildschweine gejagt und Kriege geführt um uns mit Hilfe der Wissenschaft und dem darin eingebetteten Idealismus unserem Ursprung wieder zuzuwenden. 

Mich faszinieren auch die Menschen, die ich in der Wissenschaft getroffen habe, einerseits kreativ und voller Visionen, auf der anderen Seite klare und strukturierte Charaktere, die sich in Details verlieren um das Ganze zu erfassen. 

Zu einem dieser Menschen zählt der mittlerweile verstorbene Jesco von Puttkamer, der einmal sagte: „Jugend, meidet die Komfortzone!“ Das war im Astronomiejahr 2009 bei einem Vortrag, wo ich alleine als junger Mensch zwischen gefühlt 300 Rentnern dasaß und mich in diesem Moment fürchterlich erhaben fühlte.

Oder ein anderes Beispiel, der deutsche Astronaut Alexander Gerst, der als Multitalent und Paradebeispiel eines Menschen viele Heldenvisionen erfüllen dürfte und dann doch von der Zerbrechlichkeit unseres Planeten berichtet, würdevoll und nachsichtig. 

Und das zeigt, dass wir im Anbetracht des Universums klein und unbedeutsam sind, aber unserer Existenz dadurch einen Wert verleihen, dass wir kreativ sind, fragen und entdecken. Lebewesen, die nicht nur sprichwörtlich nach den Sternen greifen, sondern real den Weg nach oben suchen.

Der Begriff „Kreativität“ steht für viele Menschen im Gegensatz zur Wissenschaft, aber wer sich den Wortursprung ansieht, kann Ähnlichkeiten entdecken. Kreativ sein bedeutet schaffen, und dieses steckt auch in der Wissenschaft. Natürlich gibt es auch Menschen, die bei Gang auf die Toilette bedeutsame Erfindungen geleistet haben, aber selbst dafür muss ein Mensch wach, ein bisschen kindlich und vor allem offen und schöpferisch sein, um an seiner Entdeckung nicht vorbei zu spazieren. 

Heute, knapp 20 Jahre später, finde ich mich in der Eingangshalle des Naturkundemuseums wieder, wo jener große Dinosaurier vor mir steht. Ich habe Angst davor, dass er klein und langweilig erscheinen könnte. So geht es schließlich vielen Erwachsenen, die die Fähigkeit zum Staunen längst verlernt und schließlich verloren haben. Als ich die Halle betrete, fällt mir zunächst ihr Klang auf: ein leises Echo von Stimmen, Schritten und zirkulierender Luft. 

Dann steht er vor mir. Das helle Skelett wirkt immer noch riesig - so wie damals, ich fühle mich klein, versuche die Knochen zu zählen um begeistert ab der Mitte aufzugeben, weil es zu viele sind. Erleichtert  realisiere ich, dass sich an meiner Begeisterung nichts geändert hat, nur meine Betrachtungsweise hat neue Aspekte gewonnen. Aus einer naiven Neugierde ist das Bewusstsein für die permanente Grenzenlosigkeit, die mich umgibt, entstanden.  

Als ich aus dem Museum in die junge Nacht trete, sehe ich, dass trotz der Stadtlichter Berlins am Himmel helle Sterne leuchten.

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