warum Therapie mehr sein sollte, als ein abstrakter Raum für trübe Gefühlswelten
Meine erste therapeutische Erfahrung habe ich mit circa 15
Jahren gemacht. Sie fand zwar nicht beim Therapeuten, sondern in einer
abgerockten Hinterhoffabrikhalle statt -
aber ihre Auswirkungen auf mein weiteres Leben, würde ich als therapeutisch bezeichnen.
Ich war das, was mit 15 viele Menschen sind: latent aggressiv, emotional
unkoordiniert und trotzdem träumerisch. Unsere Theaterchoreographin war eine
junge Brasilianerin mit sehr großem Herz und nonverbalem Gespür für Menschen.
Eines Tages bat sie mich, früher als die anderen zur Probe zu kommen. Sie
drückte mir einen großen, alten Bühnenvorhang in die Hand und forderte mich auf
ihn zu zerschlagen. Ich griff nach dem Vorhang und schleuderte ihn minutenlang
immer wieder auf den Boden, bis der Schweiß von meiner Haut perlte. Obwohl ich
mich verausgabte, veränderte ich die Struktur des Vorhangs nicht. Erschöpft
brach ich über dem Boden zusammen, spürte, wie sich die Arme unserer
Choreographin um mich legten. Ich glaube, wir saßen eine Stunde so da. Danach
war das mit der Aggression vorbei.
Heute weiß ich: das was damals in diesem Raum geschehen war,
beinhaltete eine Wirkung, die mein ganzes Leben prägen würde. In diesem
tatsächlichen Moment allerdings, verstand ich gar nichts.
So geht es wohl vielen Menschen, die eine Therapie machen.
Wenn ich mich an meine selbstrelevanten Ziele als 15jährige
erinnere, sahen sie folgendermaßen aus: ich wollte cool aussehen und dabei
einer Gruppe angehören. Das Theater bot mir genau diese Möglichkeiten: ich
lernte Bewegungen, die im gesellschaftlichen Kontext als „cool“ bewertet
wurden, und war dabei auch noch Teil einer Gruppe. Interesse an persönlicher
Entwicklung oder Selbsterfahrung? Das konnte ich damals bei mir absolut nicht
entdecken.
wie Therapie manchmal
sein kann
Heute, rund 10 Jahre später, bin ich Körpertherapeutin. Ich
tue das, was unsere Choreographin mit mir gemacht hat, mit vielen anderen
Menschen. Die Erfahrungen haben sich in meinen Körper eingebrannt, mit den
Jahren habe ich sie reflektieren gelernt. Ich weiß, warum es sinnvoll ist
Theatervorhänge auf dem Boden zu zerdeppern. Aber aus meiner eigenen Erfahrung
weiß ich auch, dass das nicht alle Leute verstehen. Menschen, die sich nie
umgehend mit Therapie beschäftigt haben, verstehen Therapie vielleicht nicht.
Einfach, weil sie es nie gebraucht haben. Trotzdem kann es passieren, dass sie
an einem Punkt im Leben stehen, an dem sie Therapie benötigen.
In meiner heutigen Arbeit bieten sich mir oft Bilder, die
ich als ironisch bezeichnen würde: Topmanager, die Körbe flechten sollen.
Mütter von vielen Kindern, die ihr Leben in drei Farben auf A1 Bögen bringen.
Aggressive Schwerverbrecher, die mit bunten Tüchern spielen. Oft habe ich mich
gefragt, ob der jeweilige Mensch mit der jeweiligen Biographie dahinter
versteht, was er da eigentlich tut. Ganz oft habe ich eine Antwort erfahren:
Nein!
Wir sind Therapeuten. Wir sind dorthin gekommen, weil uns
irgendwann die Idee für dieses Konzept so sehr überzeugt hat, dass wir uns dem
gewidmet haben. Und ganz oft automatisch allem, was dahinter steckt: leise
gesprochenen Sätzen, andächtigem Nicken und tiefsinnigen Gedanken. Oft habe ich
mich gefragt, wie sehr das mit der Lebenswirklichkeit vieler Menschen da
draußen überhaupt korrespondiert. Ist Therapie vielleicht ein surrealer Raum,
geprägt von Weichspüler und virtuellen Milchschaumwelten?
Ich erinnere mich an Momente aus meiner Therapieausbildung,
die ich wirklich langweilig empfand. Ich
sollte in Übungen minimale Bewegungen andeuten – etwas, was ich in meiner
Freizeit niemals tun würde. Wenn ich Bewegungen ausführe, dann soll das auch
richtig sein, nicht nur pro forma. Es soll „Klettern“ oder „Tanzen“ oder
„Schwimmen“ heißen. Und nicht „Therapie“. Wenn ich tanze, dann entsteht durch
das Erlernen der Bewegung, durch das Schwitzen zur Musik und das absolute
Versinken in der Tätigkeit ein Flow. Ich vergesse dann alles um mich herum, und
lebe den Moment. Das passiert nicht, wenn ich meinen Arm in die Luft halte und
ein bisschen wedele. Natürlich haben auch kleine, segmentierte Bewegungen ihren
Sinn – aber den muss man erstmal verstehen lernen. Heute bin ich dankbar dafür,
die Erfahrung des Nichtverstehens erlebt zu haben.
Mit der Therapie ist es wie mit der Kunst: man muss lernen,
sie zu verstehen. Für jemanden, der sich mit Kunst auseinandersetzt ist es
einfach sich vor ein komplexes Gemälde zu stellen und es zu begreifen. Für mich
ist es: ich stehe davor. Schön oder nicht schön. Mehr habe ich nicht gelernt.
Bei Musik ist es das Gleiche: komplexe Klassik motiviert mich nicht zur Reflexion,
sondern erzeugt Dissonanz, die mich eher abschreckt. In solchen Momenten, in
denen ich in Bereiche eintauche, die zu komplex für mich funktionieren, denke
ich dann an meinen Patienten, den Topmanager. Er soll Körbe flechten, ohne die
tiefere Bedeutung davon intrinsisch begriffen zu haben. Ja, ich habe vielleicht
durch jahrelange Ausbildung und Erfahrung das Konzept von Achtsamkeit und von
Momentaufnahmen des Lebens erlernt. Sollte man die Menschen nicht deshalb dort
abholen, wo sie gerade stehen? Und ist das bei dem Manager nicht eher am
Börsenkurs anstatt beim Korbflechtmaterial?
Warum suchen wir unseren Menschen also nicht Bewegungsformen,
die ihnen wirkliche Freude bereiten? Dazu müssen wir keine neuen, therapeutisch
angelehnten Pseudobewegungen etablieren, sondern dürfen ruhig auf das
vertrauen, was seit Jahrhunderten Menschen glücklich macht – Tanz, Spiel,
Laufen, Springen, Schwimmen oder Klettern.Therapie kann deshalb in der Kletterhalle stattfinden, im Café, auf der Straße oder in der Kneipe.
Ich glaube an die intrinsische Motivation des Lernens.
Menschen lernen gerne – und die beste Therapie kann genau daraus bestehen in
einen Prozess aus Lernen einzutauchen, in dem Erfahrungen gemacht werden, die
der Realität des Menschen entsprechen. Der idealen Realität eines Menschen
entspricht nicht, in einem Therapieraum zu sitzen und dort im Stuhlkreis
hockend Gefühle zu benennen. Der Realität des Menschen entspricht in diese Welt
eingegliedert zu sein – auf seine individuelle Weise. Manche gehen dafür in
Vereine, andere bleiben eher für sich – und sind damit trotzdem Teil dieser
Gesellschaft.
wie Therapie sein
sollte
Ich habe das Gefühl, dass wir in der Therapie oft vor
Mitgefühl zerfließen. Therapie kann cool sein, sollte manchmal sogar cool sein,
Spaß machen und Menschen zum Lachen bringen. Therapie ist der erste Raum, in
dem neue Erfahrungen stattfinden können – also auch positive. Ein
therapeutischer Raum sollte die Vielfalt des Lebens und seine Ironie erlauben
können. Und das Leben zeigt uns oft, wie dicht Leid neben Liebe steht, welche
Rolle Nähe, Verbundenheit, Wut oder Spontaneität bedeuten können. Dazu gehört
auch, dass Therapie mal laut, ruppig und plump erscheint. Und, dass diese Fülle
sein darf und auch schön so ist.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen nicht das
Bedürfnis nach Heilung bei mir suchen, sondern den Wunsch nach Entfaltung
verspüren. Einen ruhigen, sicheren Raum zum Entdecken, zum Ausprobieren. Am
meisten lernen die Menschen, wenn wir sie nicht therapieren, sondern sie
einladen ihr Wissen über sich selbst zu erweitern. Wir, therapeutisch
arbeitende Menschen sollten die ersten sein, die zu dieser Reise einladen, und
mit einem Lächeln sagen: Komm einfach mit!
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