Montag, 27. Juni 2016

Tango statt Tränen




warum Therapie mehr sein sollte, als ein abstrakter Raum für trübe Gefühlswelten
 
Meine erste therapeutische Erfahrung habe ich mit circa 15 Jahren gemacht. Sie fand zwar nicht beim Therapeuten, sondern in einer abgerockten Hinterhoffabrikhalle statt  - aber ihre Auswirkungen auf mein weiteres Leben, würde ich als therapeutisch bezeichnen. Ich war das, was mit 15 viele Menschen sind: latent aggressiv, emotional unkoordiniert und trotzdem träumerisch. Unsere Theaterchoreographin war eine junge Brasilianerin mit sehr großem Herz und nonverbalem Gespür für Menschen. Eines Tages bat sie mich, früher als die anderen zur Probe zu kommen. Sie drückte mir einen großen, alten Bühnenvorhang in die Hand und forderte mich auf ihn zu zerschlagen. Ich griff nach dem Vorhang und schleuderte ihn minutenlang immer wieder auf den Boden, bis der Schweiß von meiner Haut perlte. Obwohl ich mich verausgabte, veränderte ich die Struktur des Vorhangs nicht. Erschöpft brach ich über dem Boden zusammen, spürte, wie sich die Arme unserer Choreographin um mich legten. Ich glaube, wir saßen eine Stunde so da. Danach war das mit der Aggression vorbei. 

Heute weiß ich: das was damals in diesem Raum geschehen war, beinhaltete eine Wirkung, die mein ganzes Leben prägen würde. In diesem tatsächlichen Moment allerdings, verstand ich gar nichts.
So geht es wohl vielen Menschen, die eine Therapie machen.

Wenn ich mich an meine selbstrelevanten Ziele als 15jährige erinnere, sahen sie folgendermaßen aus: ich wollte cool aussehen und dabei einer Gruppe angehören. Das Theater bot mir genau diese Möglichkeiten: ich lernte Bewegungen, die im gesellschaftlichen Kontext als „cool“ bewertet wurden, und war dabei auch noch Teil einer Gruppe. Interesse an persönlicher Entwicklung oder Selbsterfahrung? Das konnte ich damals bei mir absolut nicht entdecken.

wie Therapie manchmal sein kann

Heute, rund 10 Jahre später, bin ich Körpertherapeutin. Ich tue das, was unsere Choreographin mit mir gemacht hat, mit vielen anderen Menschen. Die Erfahrungen haben sich in meinen Körper eingebrannt, mit den Jahren habe ich sie reflektieren gelernt. Ich weiß, warum es sinnvoll ist Theatervorhänge auf dem Boden zu zerdeppern. Aber aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich auch, dass das nicht alle Leute verstehen. Menschen, die sich nie umgehend mit Therapie beschäftigt haben, verstehen Therapie vielleicht nicht. Einfach, weil sie es nie gebraucht haben. Trotzdem kann es passieren, dass sie an einem Punkt im Leben stehen, an dem sie Therapie benötigen.

In meiner heutigen Arbeit bieten sich mir oft Bilder, die ich als ironisch bezeichnen würde: Topmanager, die Körbe flechten sollen. Mütter von vielen Kindern, die ihr Leben in drei Farben auf A1 Bögen bringen. Aggressive Schwerverbrecher, die mit bunten Tüchern spielen. Oft habe ich mich gefragt, ob der jeweilige Mensch mit der jeweiligen Biographie dahinter versteht, was er da eigentlich tut. Ganz oft habe ich eine Antwort erfahren: Nein!

Wir sind Therapeuten. Wir sind dorthin gekommen, weil uns irgendwann die Idee für dieses Konzept so sehr überzeugt hat, dass wir uns dem gewidmet haben. Und ganz oft automatisch allem, was dahinter steckt: leise gesprochenen Sätzen, andächtigem Nicken und tiefsinnigen Gedanken. Oft habe ich mich gefragt, wie sehr das mit der Lebenswirklichkeit vieler Menschen da draußen überhaupt korrespondiert. Ist Therapie vielleicht ein surrealer Raum, geprägt von Weichspüler und virtuellen Milchschaumwelten?

Ich erinnere mich an Momente aus meiner Therapieausbildung, die ich wirklich langweilig empfand. Ich sollte in Übungen minimale Bewegungen andeuten – etwas, was ich in meiner Freizeit niemals tun würde. Wenn ich Bewegungen ausführe, dann soll das auch richtig sein, nicht nur pro forma. Es soll „Klettern“ oder „Tanzen“ oder „Schwimmen“ heißen. Und nicht „Therapie“. Wenn ich tanze, dann entsteht durch das Erlernen der Bewegung, durch das Schwitzen zur Musik und das absolute Versinken in der Tätigkeit ein Flow. Ich vergesse dann alles um mich herum, und lebe den Moment. Das passiert nicht, wenn ich meinen Arm in die Luft halte und ein bisschen wedele. Natürlich haben auch kleine, segmentierte Bewegungen ihren Sinn – aber den muss man erstmal verstehen lernen. Heute bin ich dankbar dafür, die Erfahrung des Nichtverstehens erlebt zu haben.

Mit der Therapie ist es wie mit der Kunst: man muss lernen, sie zu verstehen. Für jemanden, der sich mit Kunst auseinandersetzt ist es einfach sich vor ein komplexes Gemälde zu stellen und es zu begreifen. Für mich ist es: ich stehe davor. Schön oder nicht schön. Mehr habe ich nicht gelernt. Bei Musik ist es das Gleiche: komplexe Klassik motiviert mich nicht zur Reflexion, sondern erzeugt Dissonanz, die mich eher abschreckt. In solchen Momenten, in denen ich in Bereiche eintauche, die zu komplex für mich funktionieren, denke ich dann an meinen Patienten, den Topmanager. Er soll Körbe flechten, ohne die tiefere Bedeutung davon intrinsisch begriffen zu haben. Ja, ich habe vielleicht durch jahrelange Ausbildung und Erfahrung das Konzept von Achtsamkeit und von Momentaufnahmen des Lebens erlernt. Sollte man die Menschen nicht deshalb dort abholen, wo sie gerade stehen? Und ist das bei dem Manager nicht eher am Börsenkurs anstatt beim Korbflechtmaterial?

Warum suchen wir unseren Menschen also nicht Bewegungsformen, die ihnen wirkliche Freude bereiten? Dazu müssen wir keine neuen, therapeutisch angelehnten Pseudobewegungen etablieren, sondern dürfen ruhig auf das vertrauen, was seit Jahrhunderten Menschen glücklich macht – Tanz, Spiel, Laufen, Springen, Schwimmen oder Klettern.Therapie kann deshalb in der Kletterhalle stattfinden, im Café, auf der Straße oder in der Kneipe.

Ich glaube an die intrinsische Motivation des Lernens. Menschen lernen gerne – und die beste Therapie kann genau daraus bestehen in einen Prozess aus Lernen einzutauchen, in dem Erfahrungen gemacht werden, die der Realität des Menschen entsprechen. Der idealen Realität eines Menschen entspricht nicht, in einem Therapieraum zu sitzen und dort im Stuhlkreis hockend Gefühle zu benennen. Der Realität des Menschen entspricht in diese Welt eingegliedert zu sein – auf seine individuelle Weise. Manche gehen dafür in Vereine, andere bleiben eher für sich – und sind damit trotzdem Teil dieser Gesellschaft.

wie Therapie sein sollte

Ich habe das Gefühl, dass wir in der Therapie oft vor Mitgefühl zerfließen. Therapie kann cool sein, sollte manchmal sogar cool sein, Spaß machen und Menschen zum Lachen bringen. Therapie ist der erste Raum, in dem neue Erfahrungen stattfinden können – also auch positive. Ein therapeutischer Raum sollte die Vielfalt des Lebens und seine Ironie erlauben können. Und das Leben zeigt uns oft, wie dicht Leid neben Liebe steht, welche Rolle Nähe, Verbundenheit, Wut oder Spontaneität bedeuten können. Dazu gehört auch, dass Therapie mal laut, ruppig und plump erscheint. Und, dass diese Fülle sein darf und auch schön so ist. 

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen nicht das Bedürfnis nach Heilung bei mir suchen, sondern den Wunsch nach Entfaltung verspüren. Einen ruhigen, sicheren Raum zum Entdecken, zum Ausprobieren. Am meisten lernen die Menschen, wenn wir sie nicht therapieren, sondern sie einladen ihr Wissen über sich selbst zu erweitern. Wir, therapeutisch arbeitende Menschen sollten die ersten sein, die zu dieser Reise einladen, und mit einem Lächeln sagen: Komm einfach mit!

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